"Ich bin kein Religionsstifter"
Reinhold Messner (71) ist der vielleicht profilierteste, ganz bestimmt der berühmteste Alpinist, Abenteurer - "Grenzgänger", wie er im Interview mit dem Düsseldorfer Anzeiger sagt - unserer Zeit. Auf seiner aktuellen Vortrag-Reise "ÜberLeben" ist er am 26. November im Düsseldorfer Capitol zu Gast.
Wir erreichen Messner telefonisch in seinem Haus in Südtirol.
Herr Messner, sie sind 71 Jahre alt - wie fühlen Sie sich nach einem bisherigen Leben voller großer körperlicher und mentaler Herausforderungen?
Mir geht es im Verhältnis zu dem, was ich mir - und das sage ich jetzt mit Bedacht - zugemutet habe, noch relativ gut, was meine Beine und Gelenke angeht. Da sind die meisten Bergsteiger in meinem Alter schon teilweise mit Metall ausgestattet. Bei mir es es noch nicht so und mein Kopf funktioniert auch noch recht ordentlich."
Sagen Sie uns: Welche Geräusche hört man in 7500 Meter Höhe oder in der Antarktis, wo Sie überall unterwegs waren? Herrscht mitunter die absolute Stille?
Das ist ganz unterschiedlich. Wenn sie in der Antarktis sind, bewegt sich das Eis unter Ihnen - und das hört man. Noch viel stärker nimmt man das etwa im Basislager am Mount Everest wahr, wo sich das Eis viel schneller bewegt. Da vernehmen sie oftmals einen Plumpser, weil ein Stein tief unter ihrem Zelt ins Wasser fällt und sie haben im Traum mitunter das Gefühl, sie plumpsen hinterher. In größer Höhe sind es vor allem die Windgeräusche im Schnee und entlang der Grate. Die absolute Stille gibt es dort nicht, ich spreche von einer Art Naturmusik.
Es wird bei Ihren Expeditionen viele tendenzielle Gefahrenmomente gegeben haben. Erinnern Sie sich dennoch an eine außergewöhnlich heikle Situation, die Sie überwunden haben?
Ich habe natürlich eine Vielzahl heikler Situationen überwunden, weil es der Sinn des Ganzen ist. Ich bin freiwillig dorthin gegangen, wo es diese Momente gibt und die galt es stets zu meistern. Und je weiter ich weg war von der Sicherheit, umso vorsichtiger ging ich vor, instinktiv, weil ich wusste, dass ein kleiner Fehler in 8000 Metern Meereshöhe, wenn kein Mensch weit und breit zur Stelle ist, eine tödliche Angelegenheit ist.
Stichwort Angst: Welche Rolle hat sie bei Ihren Grenzgängen gespielt? Ein stetiger Begleiter, Ratgeber in bestimmten Augenblicken, etwas das im Hintergrund lauert und bezwungen werden will?
Die Angst spielt im Vorfeld die größte Rolle. Während des Tuns löst sie sich auf. Das heißt, wenn ich im Vorfeld nicht mit ihr zurechtkomme, dann darf ich erst gar nicht losgehen, dann bin ich der Sache nicht gewachsen.
Muss man sie zeitweilig dann doch bezwingen?
Nein, die Angst geht nur weg, wenn man sich gezielt vorbereitet, wenn sie ergründen, wovor sie Angst haben. Und dann müssen sie den Grund für diese Angst beseitigen. Also etwa die Ausrüstung korrigieren, vielleicht den Partner wechseln, weil er doch nicht den Anforderungen entspricht. Und vor allem lernen, bestimmte - auch kritische - Tätigkeiten, auf die sie in Notsituationen angewiesen sind, leisten zu können.
Sie sind oft allein unterwegs gewesen, an menschenfeindlichen Orten. Wie einsam kann ein Mann sein?
Einsamkeit ist eine sehr vage Angelegenheit. Viele Singles in einer großen Stadt sind verlorener, als ich es in der Antarktis war. Das Alleinsein ist nur ein größeres "exponiert sein", ich kann meine Zweifel nicht teilen. Ich wollte aber auch schauen, ob ich das allein kann, ohne die Hilfe und Unterstützung eines Partners.
Hat es Sie da manchmal übermannt?
Ich habe lange gebraucht bis ich soweit war, tage- oder wochenlang ganz allein in schwieriger Situation zu sein. Aber ich habe auch das gelernt, man kann eigentlich fast alles lernen.
1970 ist Ihr Bruder Günther bei einer gemeinsamen Expedition am Nanga Parbat umgekommen. 35 Jahre später wurden seine sterblichen Überreste gefunden. Was bedeutete Ihnen dieser Fund?
Es ergab sich erstens die Möglichkeit, den Bruder zu beerdigen, die Sache abzuschließen. Wir haben eine Feuersbestattung gemacht. Das war gerade für die Angehörigen, die sich zum Zeitpunkt seines Todes am anderen Ende der Welt befanden und nicht in seiner Nähe waren wie ich besonders wichtig.
Und zweitens?
Neben der subjektiv persönlichen Seite gab es jetzt die Beweisführung nach außen, die Bestätigung meiner Schilderung des Unglücks und vor allem die des Ortes. Eine Aufschlüsselung der Tatsachen! Nachdem man alles mögliche rund um diesen Vorfall kolportiert hatte, mir vorwarf, dem Bruder meinem Ehrgeiz geopfert zu haben. Da hatte irgendjemand eine Lügengeschichte in die Welt gesetzt, weil sie sich gut verkaufen ließ. Auch das ist eine interessante Erfahrung gewesen, doch sie spielt heute keine Rolle mehr.
In Ihrer Autobiographie "Leben am Limit" bezeichnen Sie es als Ihre größte Lebensleistung, überlebt zu haben. Was ist das begleitende Gefühl? Demut, Stolz, Erleichterung?
Vor allem die Freude, weiterhin gestalten, mein Leben einbringen zu können. Auch das Glück zu besitzen, etwa meinen Kindern dabei zusehen zu können wie sie groß werden. Es ist leider so, das von den 50 erfolgreichsten Grenzgängern meiner Generation, keine Handvoll überlebt hat. Die überwiegende Mehrzahl ist in der Wildnis, am Berg umgekommen.
Sie sind mit Ihrer aktuellen Vortragsreihe erneut in gesellschaftspolitischer und philosophischer Mission unterwegs. Welche Erkenntnisse für das Leben schlechthin zieht man aus einem Leben wie dem Ihren?
Ich trete nicht als Religionsstifter auf die Bühne der sagt, er weiß wie es geht. Ich versuche nur, meine Geschichten zu erzählen. Die Zuhörer können dann entscheiden, das nehme ich mit und das nicht. Wir Grenzgänger haben die Möglichkeit, eine Menschennatur zu erfahren, wie sie die meisten Leute in der heutigen Stadt-Zivilisation nicht erleben können. Die Menschen haben in den vergangenen 10.000 Jahren alles getan, um das Leben sicherer und noch sicherer zu machen. Ich habe das genaue Gegenteil gemacht, ich bin dann und wann aus dieser Sicherheit raus in die maximale Gefahr, um zu schauen wie ich ticke. Und das erzähle ich den Leuten.
Herr Messner, Sie sind viel rumgekommen. Was ist für Sie der schönste Platz auf der Erde?
Dort wo ich aufgewachsen bin, in den Dolomiten, gibt es die schönsten Plätze auf Erden!