Julia von Lindern von fiftyfifty im Interview „Man kann auch bei 3 Grad plus erfrieren“

Düsseldorf ist eine wohlhabende Stadt. Trotzdem gibt es auch hier Menschen, die arm sind, nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Julia von Lindern arbeitet seit 2009 mit Obdachlosen und Wohnungslosen. Die 33-Jährige ist Streetworkerin bei fiftyfifty. Wir haben mit ihr gesprochen.

Julia von Lindern (links) bei der Arbeit.

Foto: Julia Saputo

Frau von Lindern, wie viele Obdachlose gibt es in Düsseldorf?

In Düsseldorf geht man von 200 bis 300 obdachlosen Personen aus. Da sind allerdings Menschen, die beispielsweise in Abbruchhäusern leben oder in Camps auf Bahngeländen, nicht mit eingerechnet, weil das Privatgelände ist. Gezählt wird nur im öffentlichen Raum.

Wie hat sich die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung in den vergangenen Jahren entwickelt?

Sie ist gestiegen, bei den Obdachlosen wie bei den Wohnungslosen. Unter Letztere fallen beispielsweise auch Geflüchtete, die anerkannt sind, aber auf dem angespannten Wohnungsmarkt keine Wohnung finden und daher in den Heimen bleiben müssen. Die werden statistisch als Wohnungslose erfasst. Ihre Zahl hat sich in Düsseldorf alleine von 2015 auf 2016 fast verdoppelt – von 2.500 auf 5.000. In den Notschlafstellen ist die Auslastung mittlerweile auch in den Sommermonaten bei fast 90 Prozent. Der Bedarf ist im Vergleich zu früher stark gestiegen. Die Stadt hat aber kaum noch Zugriff auf geeignete Immobilien. Das ist das Problem.

Und die Menschen, die obdachlos sind? Sind das noch ähnliche Gruppen wie vor, sagen wir mal, 30 Jahren?

Nein, das hat sich stark verändert. In den europäischen Großstädten ist es mittlerweile so, dass 50 Prozent der obdachlosen Menschen aus dem EU-Ausland kommen. Das ist auch unsere Erfahrung hier in Düsseldorf. Wir haben häufig mit polnischen, slowakischen oder rumänischen Personen zu tun. Dazu kommt eine höhere verdeckte Wohnungslosigkeit. Darunter fallen zum Beispiel junge Griechen, die vor der Arbeitslosigkeit in ihrer Heimat geflüchtet sind und hier unter völlig prekären Verhältnissen mitwohnen.

Man liest auch immer wieder über sogenannte Schrottimmobilien.

Die gibt es hier in der Stadt natürlich auch. Die Hausbesitzer nehmen für heruntergekommene Matratzenlager exorbitant hohe Mieten, weil sie wissen, dass die Menschen, beispielsweise Rumänen oder Bulgaren, sonst auf dem Wohnungsmarkt gar keine Schnitte haben. Wir haben entsprechende Häuser besichtigt, die sind in einem desolaten Zustand. Bei manchen sind die Decken rausgebrochen. Trotzdem werden Mieten von 16 bis 20 Euro pro Quadratmeter abgerufen.

Vor einigen Wochen räumte die Stadt Düsseldorf ein Obdachlosen-Lager unter der Rheinkniebrücke und versuchte, die Stelle im Anschluss durch das Platzieren großer Steine unbewohnbar zu machen. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?

Ich finde das Vorgehen der Stadt beschämend und menschenverachtend. Und damit bin ich offenbar nicht allein. Neben der medialen Kritik an dem Vorgehen der Stadt gab es auch einen großen gesellschaftlichen Aufschrei, das konnte man in den sozialen Medien gut verfolgen.

Wo sind die Leute, die unter der Brücke gezeltet haben, jetzt?

Die haben eine andere Platte gefunden. Wo, möchte ich gar nicht sagen. Sie sind auf jeden Fall nicht in die Notschlafstelle in Heerdt gegangen, die die Stadt aufgrund des öffentlichen Drucks in einer ehemaligen Schule eröffnet hat.

Wie viele Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose stehen denn überhaupt in Düsseldorf zur Verfügung?

Das kann ich Ihnen zurzeit nicht genau sagen, da vieles in Bewegung ist und einige Veränderungen anstehen. Es gibt Notschlafstellen für Männer, für Frauen und mittlerweile auch für Paare. Wir haben städtische Obdächer und wenn es nötig ist, werden auch Hotels angemietet. Dazu kommen in der kalten Jahreszeit die sogenannten Winternothilfen. Das war früher mal ein beheiztes Zelt am Rhein, in den vergangenen Jahren dann eine Unterkunft an der Prinz-Georg-Straße. Deren Öffnung war zunächst temperaturgebunden. Das heißt, wenn die Temperaturen tagsüber unter die Null-Grad-Marke sanken, wurde die Unterkunft nachts geöffnet – und nur dann. Das ist natürlich absurd, weil man auch bei drei Grad plus erfrieren kann. Diese Temperaturbindung wurde mittlerweile abgeschafft. Die Winternothilfe hat seit dem 4. November durchgehend bis zum 15. März geöffnet, bei anhaltend niedrigen Temperaturen auch länger. Sie ist mittlerweile am Vogelsanger Weg in Rath ansässig und wurde mit der humanitären Hilfe für EU-Bürger zusammengeführt. Mit Letzterer hat die Stadt auf die vielen obdachlosen Menschen aus dem EU-Ausland reagiert, die bis dahin keinen ganzjährigen Zugang zu den Notschlafstellen hatten. Es geht dabei um eine Minimalversorgung. Niemand bekommt ein Einzelzimmer mit Flachbildschirm. Außerdem soll voraussichtlich noch in diesem Jahr eine weitere innenstädtische Einrichtung eröffnen. Den genauen Standort hat die Stadt aber noch nicht kommuniziert.

Wie viele Schlafplätze wird es am Vogelsanger Weg geben?

60. Die Menge ist durchaus ein Problem. Je mehr Menschen in einer solchen Unterkunft zusammen sind, desto größer ist natürlich das Konflikt-Potenzial. Das ist ja keine einfache Klientel.

Nun sind die meisten Angebote für Obdachlose, seien es nun Duschen, Frühstück oder Beratung, ja in der Innenstadt. Wie viel Sinn macht vor dem Hintergrund der Standort Rath?

In meinen Augen nicht viel Sinn. Obwohl die Rheinbahn den Obdachlosen seit einiger Zeit Ticket-Kontingente zur Verfügung stellt. Trotzdem habe ich die Befürchtung, dass die Platten in der Innenstadt geräumt und Notschlafstellen an den äußersten Stadtrand verlegt werden, um die Innenstadt optisch sauber zu bekommen. Gerade, wenn die geplante innenstädtische Einrichtung doch nicht kommt.

Jetzt haben wir über die unterschiedlichen Notschlafstellen gesprochen. Trotzdem gibt es ja Leute, die es auch im Winter vorziehen, auf der Straße zu schlafen. Nach Auskunft der Stadt sind das circa 200. Was sind die Gründe für ihre Entscheidung?

Die Gründe sind vielfältig. Es gab zum Beispiel über viele Jahre kein Angebot für die Unterbringung von Paaren. Dabei gibt es durchaus Obdachlose, die über Jahre hinweg sehr stabile Beziehungen haben. Die starren Öffnungszeiten der Einrichtungen sind ein Problem, in vielen muss man um eine bestimmte Zeit da sein und darf dann nicht mehr raus. Auch das strikte Alkoholverbot ist für viele abschreckend. Genauso wie die Tatsache, dass man in den Einrichtungen seine Hunde nicht mitbringen darf. Letzteres Problem ist mittlerweile gelöst. In die Heerdter Einrichtung, die derzeit ganz gut angenommen wird, dürfen Hunde mitgebracht werden.

Noch mal zurück zu den Draußenschläfern: Versuchen Sie als Streetworker eigentlich, auf die einzuwirken?

Auf jeden Fall. Sobald es kälter wird, haben wir verstärkt ein Auge auf die, die noch draußen sind. Wir klären über die Angebote auf, geben Tipps, wo man witterungsgeschützt schlafen kann. Zudem fragen wir nach, ob gute Isomatten, Zelte und Schlafsäcke vorhanden sind. Einmal jährlich kaufen wir als fiftyfifty neue Winter-Schlafsäcke und Isomatten und verteilen sie.

Ein guter Schlafsack ist das Eine. Der Faktor Sicherheit das Andere. In den vergangenen Jahren gingen immer wieder Fälle schwerer Gewalt gegen Obdachlose durch die Presse.

Auch hier haben wir es mit einer zunehmenden Zahl von Fällen zu tun. Für einige Menschen scheint es mittlerweile schon fast okay, einen Obdachlosen, der auf einer Parkbank schläft, mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Diese Entwicklung korreliert sehr wohl mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck, mit einem Verständnis davon, wie wir in unserer Gesellschaft mit Armen und Schwachen umgehen. Trotzdem ist es im Monitoring sehr schwierig, Übergriffe auf Obdachlose und dann auch noch solche, die aus einer politischen Gesinnung resultieren, zu erfassen. Das macht die Polizei nicht. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hat das mal so kommentiert: „Was nicht gezählt wird, zählt auch nicht.“ Und genau so ist es.

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