Tangerine Dream im Interview „Keine Angst, etwas zu zerstören“
Die Berliner Band Tangerine Dream, gegründet 1967, gilt weltweit als Wegbereiter elektronischer Musik. Der Düsseldorfer Anzeiger sprach mit der aktuellen Bandbesetzung, den Musikern Thorsten Quaeschning, Hoshiko Yamane und Ulrich Schnauss.
Mit rund 200 Studio- und Livealben sowie zahlreichen Filmmusiken gelten die Musiker der sogenannten Berliner Schule um Bandgründer Edgar Froese, verstorben 2015 im Alter von 70 Jahren, als internationaler Schrittmacher des Genre. Zahlreiche einflussreiche Elektronikmusiker, darunter Klaus Schulze, Conrad Schnitzler, Christoph Franke und Johannes Schmölling, haben mit der Band gearbeitet oder sind daraus hervorgegangen.
Herr Quaeschning, Frau Yamane, Herr Schnauss, die Hörgewohnheiten haben sich in den vergangenen 40 Jahren immer wieder verändert. Ist Ihre Art der elektronischen Musik noch zeitgemäß?
Quaeschning: Es gibt ja auch zeitlose Musik. Damit ist der Begriff "zeitgemäß" schon ausgehebelt. Die Musik, die wir auf unseren Konzerten spielen, kommt unmittelbar aus uns und wir machen uns dabei nicht unbedingt Gedanken darüber, ob die Musik zeitgemäß ist oder für irgendjemanden bestimmt ist. Sie gefällt dem Publikum, und das ist gut.
Schnauss: Elektronische Musik hat mittlerweile zudem eine Phase erreicht, die Rockmusik irgendwann auch erreicht hatte. Während sich insbesondere elektronische Musik der 1990er-Jahre tatsächlich noch eindeutig einer Entstehungszeit zuordnen lies, hat sich spätestens seit dem Jahrtausendwechsel hingegen die zeitliche Einordnung aufgelöst. Heute geht es, ähnlich wie im Rock, eher um das Handwerk.
Ihre Musik spricht, was das Alter der Konsumenten betrifft, ein ungewöhnlich großes Hörerspektrum an. Es kommen die Fans der 1970er-Jahre genauso zu Ihren Konzerten wie heute 20-Jährige. Ist Ihre Musik damit auch generationsverbindend?
Quaeschning: Der Altersdurchschnitt auf unseren Konzerten variiert extrem. Von Land zu Land, Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort, sogar von Bundesland zu Bundesland sind Unterschiede festzustellen. In Pisa, Barcelona und Oslo lag der Altersdurchschnitt zuletzt bei 28.
Schnauss: Die Zeiten, in denen Musik als Identifikation über einen Musikstil galt, sind heute aufgehoben. Menschen, die heute um die 20 Jahre alt sind, hören Musik eher undogmatisch.
Ihre Band Tangerine Dream, gegründet in Berlin, gilt auf der ganzen Welt als Wegbereiter für elektronische Musik. Hat diese Art Musik trotzdem etwas Deutsches?
Quaeschning: Nun, wenn man Komponisten und Musiker wie Oskar Sala, Pierre Schaeffer oder Karlheinz Stockhausen betrachtet, dann ist ihr Ursprung prinzipiell vielleicht als europäisch zu bezeichnen. Die Innovation der Instrumente, mit denen moderne elektronische Musik aber erst erzeugt werden konnte, kam trotzdem von Robert Moog und Donald Buchler, beide Amerikaner. Die Musik ist einfach sehr international. Schließlich spielten auch bei Tangerine Dream immer unterschiedliche Musiker unterschiedlicher Nationen.
Schnauss: Zu versuchen, elektronische Musik lokal einzubinden, wäre, glaube ich, ein Fehler. Was aber vielleicht tatsächlich eine spezifisch deutsche Tradition ist, war das Einbinden und Umwandeln elektronischer Musik in eine Jugendkultur. Denn zunächst wurde die elektronische Populärmusik insbesondere in Deutschland in ihren Anfängen in den späten 1960er-Jahren nicht geschätzt. Langhaarige Gammler wurden die genannt, die sie machten. Entgegen des Mainstreams etablierten dennoch schließlich Bands wie Tangerine Dream ihre Musik in der Jugendkultur. Und das ist vielleicht auch der Schlüssel um zu verstehen, warum eine derartige Musik hier möglich wurde. Weil ihre Musik zunächst nicht akzeptiert wurde, machten sich die Musiker gar nicht erst Gedanken darüber, damit populär und erfolgreich zu werden. Man kann erst dann wirklich frei und experimentell arbeiten.
Anders als die Band Kraftwerk konnte die Band Tangerine Dream, obwohl extrem innovativ und im Ausland sehr verehrt, im eigenen Land nie den Popularitätsgrad der Rheinländer erreichen.
Quaeschning: Dafür gibt es sicherlich verschiedene Gründe. Zum einen ist Kraftwerk, was die Rhythmik betrifft, eher poporientiert und deutlich leichter bekömmlich. Auf der anderen Seite stehen rund 110 Alben von Tangerine Dream gegen unter 10 Alben von Kraftwerk. Man hat nicht die Chance zu gewinnen aber auch nicht zu verlieren, wenn man nach dem achten Album aufhört zu produzieren. TD ist da deutlich bipolarer, es waren Ausschläge in alle Richtungen möglich und es gibt bis heute eine ständige Entwicklung.
… und daher auch eine bis heute anhaltende Kreativität.
Quaeschning: Es ist morphend. Wir spielen selbst alte Stücke der Band auf Konzerten immer neu und wissen — weil wir auf Live-Sets stets improvisieren — nie, wie lang die Stücke tatsächlich werden. Zudem schreiben wir weiterhin Musik. Und auch bei aktuellen Konzerten entsteht stets neue Musik, die just in dem Moment erschaffen wird, in dem wir sie spielen. Wir einigen uns nur auf eine Grundtonart und das Tempo, der Rest passiert im Augenblick.
Schnauss: Zudem ist auch das ein Konzept der Band. Jeder Musiker, den Edgar Froese eingeladen hat, brachte auch seinen eigenen Stil mit. Etwas, das bei Kraftwerk sicherlich nicht geschieht und sicherlich auch nicht gewünscht ist. Dem Konzept von Tangerine Dream aber liegt das zugrunde. Bei uns ist der Sound nicht in die Ewigkeit zementiert, das ist das spannende an der Band.
Sie tragen den Bandnamen heute als junge Musiker mit einer Leichtigkeit, aber auch mit großer Hochachtung. Mit Alben wie "Quantum Gate" und der Sessions-Reihe machen sie deutlich, dass sie sich — bei aller Historie der Band — auch von der Geschichte der Band emanzipiert haben. Dennoch: Wie geht man mit dieser Verantwortung um?
Quaeschning: Egal unter welchem Namen man spielt: als Musiker mit Herz trägt man immer eine große Verantwortung für die Musik, die man spielt. Natürlich ist die Historie der Band unfassbar weit, dennoch habe ich mich mittlerweile nach über 15 Jahren daran gewöhnt. Gefühlt habe ich nie etwas anderes gemacht, als bei Tangerine Dream zu spielen.
Schnauss: Eigentlich habe ich keine Angst davor, etwas zu zerstören. Der Arbeitsauftrag war eher ein anderer. Edgar hat, als er uns darum bat, mitzuarbeiten, damit noch einmal alles auf den Kopf gestellt. Er wusste was wir können und was ihn erwartet. Er hat uns gebeten, weiterzuentwickeln. Wir sollten nicht die Legende schützen, sondern das Konzept entwickeln.
Quaeschning: Unsere letzte gemeinsame Tour mit Edgar durch Australien hat zudem gezeigt, dass wir den Sound aktualisiert weitertragen können. Nach einer langen Phase hatte Edgar die Band noch einmal entschlackt und völlig neu ausgerichtet. Und wir entwickeln die Band, ihre Ideen und Musik, nun auf dieser Basis kreativ weiter.