Unterwegs an der Ostsee Wind und Wetter

Der Radler, der mir entgegenkommt, hat Humor. „Nicht schieben, fahren“, rät er rufend – und ist schon über alle nicht vorhandenen Berge. Mir hingegen ist gar nicht nach Lachen zumute, meine Gefühlslage: eher zwischen Wut und Weinkrampf.

Aufs Wasser schauen: Ostseeküste nahe Zingst.

Foto: Alexandra Wehrmann

Kann passieren, wenn man auf sieben Kilometern konstant Gegenwind hat – bei Windstärke acht bis neun. Von der Sturmwarnung hätte ich natürlich durchaus Wind bekommen können (haha, schöne Formulierung!). Hätte ich mir nicht eine Handy-Auszeit verordnet jedenfalls. Jetzt bin ich unterwegs. Auf dem Deich zwischen Zingst und Prerow. Rechts hinter den Bäumen tobt die Ostsee. Anders als gestern. Gestern lag sie noch lammfromm da. Aber gestern war auch noch Frühsommer. Heute ist gefühlter Herbst. Entsprechend dick sind die Touristen eingepackt. Outdoorjacken, Kapuzen, Mützen und Stirnbänder allüberall.

Kurz vor Prerow bietet sich die Gelegenheit zu einen kurzen Sightseeing-Stop – ich nehme dankbar an. Echte Sehenswürdigkeiten gibt es auf dem Darß nur wenige. Aber die Seemannskirche von Prerow und der sie umgebende alte Friedhof, auf dem bereits seit dem 19. Jahrhundert bestattet wird, ist definitiv eine von ihnen. Neben dem wuchtigen Kirchenschiff aus roten Backstein-Ziegeln erhebt sich der hölzerne Kirchturm – mit Gockel auf dem Dach. Ein Schild weist darauf hin, dass das Eingangstor stets geschlossen zu halten ist, damit der Friedhof nicht von Wildschweinen umgepflügt wird. Das Innere des Gotteshauses würde eine gute Filmkulisse abgeben: Von der Decke hängen Schiffsmodelle, daneben ein riesiger kristallbehangener Kronleuchter. Um die Kirche herum sind uralte Grabsteine angeordnet, an denen der Zahn der Zeit bereits kräftig genagt hat. Die Schrift ist verwittert, von manchen sind Teile abgebrochen. Einen Moment lang ist man geneigt, das Stellenangebot, das im Schaukasten neben dem Eingang aushängt, ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Die Seemannskirche sucht nämlich gerade Verstärkung: einen Küster auf 450-Euro-Basis. Oder doch eher die Betreuung des Erdbeerstands in Zingst? Die suchen auch. Perspektiven zwischen Meer und Bodden.

Kurz hinter Prerow erreiche ich den Darßer Wald. Als bekennende Wald-Freundin habe schon Wälder überall auf der Erde bewandert und bin daher eine Art selbst ernannte Expertin auf dem Gebiet. Als solche wage ich mal die Behauptung, dass der Darßer Wald der schönste von allen ist. Ich nenne ihn Zauberwald. Weil er, der streckenweise auf sumpfigem Grund wächst, etwas Märchenhaftes hat. Mit seinem unglaublich intensiven Grün, mit der Mixtur aus Kiefern, Stieleichen, Erlen und Rotbuchen, den Farnen, den Moosen und den zarten rosa, blauen und weißen Blümchen, die überall aus dem Boden sprießen. Würde ein Troll aus dem Dickicht kommen oder eine Fee – es würde einen nicht wundern. Mit meiner Liebe zum Darßer Wald stehe ich keinesfalls alleine da. Auf den zahlreichen schnurgeraden Wegen, die sich durch 5.800 Hektar großen Wald, der Teil des Nationalparks Vorpormmersche Boddenlandschaft ist, sind zahllose Radler unterwegs. Großer Vorteil: Den Sturm spürt man hier im Wald kaum. Die meisten der Spaziergänger, Radler und Kutschen streben dem Darßer Ort zu. Ich lasse den Haupttouristen-Magneten der Gegend an diesem Tag links liegen und nehme Kurs auf Born.

Mit seinen zahllosen Rohrdachhäusern mt bunt bemalten Holzverschalungen ist das kleine Dorf der wohl malerischste Ort auf dem Darß, auch wenn er nicht auf der See-, sondern auf der Bodden-Seite liegt.Von außen eher schmucklos kommt hingegen das Hafen-Bistro daher. In dem kleinen Imbiss bekommt man alles, was aus Fisch gemacht wird. Betrieben wird das Bistro von mehreren älteren Damen, die man sich vorstellen muss, wie eine leicht griesgrämige nordische Variante der drei Damen vom Grill. Statt Hotelfreundlichkeit setzen sie eher auf Authentizität. Beinahe Show-Charakter hat das Bestellungs-Prozedere: Wer seine Bestellung aufgegeben hat, bekommt eine papierne Nummer und kann in der Folge an den Tischen vor dem Hafenbistro oder im separaten Gästeraum (der Tisch gegenüber der Theke ist ausdrücklich als „Personaltisch“ ausgewiesen) darauf warten, dass er ausgerufen wird. „912“ tönt es dann irgendwann blechern aus dem Lautsprecher oder „401“. Dann weiß man: Essen ist fertig. Eine echte Empfehlung ist übrigens der Backfisch, zu haben im Brötchen oder in Kombination mit sehr mayonnaisigem Kartoffelsalat. Den habe ich, ich schwöre, noch nirgends besser gegessen, nicht mal auf der Kirmes!

Abends zurück in Zingst. Zum Standard-Vorabendessen-Programm gehört hier ein Gang zur Seebrücke. Ein Gin-Tonic oder ein Eis vom „Zuckerhut“. Ein Fischbrötchen vom „Bistro Zentral“. Oder eine Waffel von „Waffelmaik“. Dazu gibt es mit etwas Glück Unterhaltungsprogramm der besonderen Art. Ein polnischer Troubadur, der optisch an Harry Rowohlt (Gott hab‘ ihn selig) erinnert, gibt hier regelmäßig Perlen der Musikgeschichte zum Besten. Um ihn herum säubern sich Strandspaziergänger die Füße. Schaufeln Kinder Sand in kleine gelbe Plastikeimer oder schmusen nicht mehr ganz junge Pärchen. Der Soundtrack dazu: „Zigeunerjunge“ von Alexandra, „Über sieben Brücken musst du geh‘n“ von Karat oder „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens, vorgetragen mit starkem polnischen Akzent und unvergleichlichem Humor. Zum Akkordeon und zur Posaune. Der Clou: Der Interpret reagiert auf jene Flaneure, die an ihm vorbeischlendern. Wenn eine Seniorin mit silbernem Pagenschnitt vorbeikommt, kann es sein, dass er sein Programm unterbricht und plötzlich „17 Jahr, blondes Haar“ anstimmt. Andere Passanten werden kurzerhand als Backing Chor oder Luftgitarristen angeheuert und so Teil des Programms.

Von derlei Amüsement mal abgesehen eignet sich die Gegend rund um den Darß perfekt zum Schweigen. Und das tun dann auch viele. Rühren im heißen Sanddornsaft. Und schweigen. Beißen in ein Matjesbrötchen mit Zwiebeln. Und schweigen. Schauen aufs Meer. Und schweigen. Ab und zu fällt ein Satz wie „Sollen wir heute Abend noch mal zum Bodden gehen?“. „Schau mal, ein Offshore-Windpark“. Oder „Ist das ein Seeadler da oben?“. Dann kehrt wieder Ruhe ein. Genau diese Ruhe ist es, die so viele Menschen hierher zieht, auf diese schmale Halbinsel, die zwischen Rostock und Stralsund in die Ostsee ragt.

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