Frau Owsjannikowa, was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Putin-Protestlerin Marina Owsjannikowa im Interview „Es brodelte in mir“
Mit ihrer sechssekündigen Plakataktion gegen Wladimir Putins Angriffskrieg in der Ukraine in der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ des russischen Staatsfernsehens wurde Marina Owsjannikowa über Nacht zur weltweit gefeierten Ikone für Presse- und Meinungsfreiheit. Sechs Sekunden, die das Leben der 43-jährigen Redakteurin für immer verändern sollten. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Marina Owsjannikowa über die Beweggründe ihrer mutigen, wenngleich auch folgenreichen Störaktion.
Demokratie bedeutet für mich, als freier Mensch leben zu können. In letzter Zeit hat sich mein Heimatland Russland jedoch in einen totalitären Staat verwandelt, der sich zunehmend von der Außenwelt abschottet. Das betrifft auch die Kommunikation. Faktisch alle unabhängigen Medien wurden gesperrt oder als „ausländische Agenten“ eingestuft - die meisten sozialen Medien sind nicht mehr erreichbar. Die Menschen in Russland haben somit fast ausschließlich Zugang zu staatlich gelenkter Informationspropaganda. Die Folge: Ein Informationsvakuum, welches wir - wie auch immer - überwinden müssen.
Wie genau kam es am 14. März zu Ihrer Aktion? Was ist in den Minuten unmittelbar danach passiert?
Der Protest ist seit vielen Jahren in mir gereift. Ich war mit der Politik meines Senders „Perwy kanal“ nicht einverstanden, ebenso mit einigen anderen Dingen, die in unserem Land passierten und noch passieren. Es brodelte in mir, aber aus persönlichen Gründen konnte ich nicht sofort kündigen. Das änderte sich jedoch schlagartig mit Beginn des Krieges. Mir war klar, dass ich dort keinen Tag länger arbeiten kann. Die Idee mit der Plakat-Aktion hatte ich am darauffolgenden Wochenende. Ich zeichnete das Plakat. Und bereits am Montag wusste ich: Wenn, dann muss es heute passieren. Ich überstieg eine Sicherheitsabsperrung und stellte mich direkt hinter die Moderatorin.
Und dann...?
Alles ging blitzschnell. Die Sicherheitsbeamtin - ein nettes Mädchen - hatte keine Zeit sich zu orientieren, geschweige denn zu verstehen, was gerade passiert ist. Noch nie in der 50-jährigen Geschichte von „Wremja“ ist etwas Derartiges geschehen. Ich verließ ruhig das Studio, im zentralen Korridor kam mir die gesamte Führungsriege von „Perwy kanal“ bereits entgegen. Ich musste im Büro des stellvertretenden Leiters eine schriftliche Erklärung abgeben. Dann eskortierte mich die hinzugerufene Polizei in mein Büro.
In der deutschen Talkshow „Markus Lanz“ sagten Sie, Sie wollten die Menschen in Russland wachrütteln, die von der russischen Propaganda zu „Zombies“ gemacht wurden. Denken Sie, das ist Ihnen gelungen?
Gemessen daran, dass in meinem Umfeld die meisten Menschen genauso denken wie ich, ist es schwer zu beurteilen, wie erfolgreich die Aktion letztendlich war. Viele Menschen schreiben mir oder kommentieren meine Aktion in den sozialen Medien. Aber wenn ich die Menschen frage, warum sie nicht auf die Straße gehen, warum sie nicht aktiv werden, lautet die Antwort meist: „Wir haben Angst!“
Reicht ein Wachrütteln der Menschen aus, wenn sie sich nicht trauen zu demonstrieren?
Nein, das reicht natürlich nicht! Die Menschen bilden sich ihre Meinung, aber die staatliche Propaganda in Russland ist sehr gut entwickelt. In einer aktuellen Umfrage habe ich gelesen, dass 81 Prozent der Menschen in Russland Putins „Aktionen“ unterstützen. Ich weiß nicht, ob man diesen Daten vertrauen kann. Meiner Wahrnehmung nach unterstützen mehr als die Hälfte der Russen diesen Krieg nicht.
Sie sagen, Sie sind überrascht, dass Sie bislang noch nicht für die Plakat-Aktion verurteilt wurden. Denken Sie, Wladimir Putin nutzt Ihre mediale Öffentlichkeit, um sich als Verfechter der Rechtstaatlichkeit zu inszenieren?
Nach der Plakat-Aktion haben sie mich anhand aller verfügbaren Quellen überprüft. Und nicht nur mich - auch meine Verwandten. Erst eine Woche später ging mein direkter Vorgesetzter mit einem Bericht an die Öffentlichkeit, in dem behauptet wird, ich sei eine britische Spionin. Völlig absurd! Seitdem habe ich das Gefühl, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden.
Wie geht es weiter?
Ich denke, dass es der russischen Propaganda bis zu einem gewissen Grad recht ist, wenn ich mit westlichen Medien kommuniziere. Wahrscheinlich ist meine Bekanntheit - zumindest derzeit - für den Kreml von Vorteil. Es gibt aktive Aufrufe, mich hinter Gitter zu bringen. Ein neues Verwaltungsverfahren wurde eingeleitet - zwei Tage später jedoch zurückgezogen. Jetzt warten meine Anwälte darauf, welche Anklagen erhoben werden.
Halten Sie eine „Normalisierung“ der Beziehungen Russlands mit dem Westen unter Wladimir Putin aktuell für realistisch?
Nein! Unter Putin sind diese Beziehungen unmöglich zu normalisieren. Russland hat in den letzten zehn Jahren eine aggressive Propaganda gegen den Westen und alle westlichen Werte betrieben. Seit zehn Jahren wird den Menschen hierzulande suggeriert, dass der Westen versucht, Russland zu zerstören. Es gibt Shows, in denen Ukrainer durchweg als Nationalisten und Faschisten bezeichnet werden. Wenn sie zehnmal wiederholen, dass „Schwarz“ eigentlich „Weiß“ ist, dann glauben die Menschen irgendwann daran. Eine ganze Generation ist mit Putins Propaganda aufgewachsen. Einfach schrecklich! Erst eine neue Politiker-Generation, die nicht in den Mustern des Kalten Krieges denkt, könnte unsere geschundenen Beziehungen zum Westen wieder „kitten“.